
Am 24. Juni 2021 ereignete sich ein folgenschwerer Tornado in Südmähren, der zwischen Valtice und Hodonin mindestens 28km Strecke zurücklegte, mehrere Ortschaften und über 2000 Häuser teilweise zerstörte, Autos umherwirbelte, Strommasten abknickte und über 200 Menschen verletzte. Bisher wurden 5 Todesopfer berichtet (Stand, 26.06., 14.00 lct). Damit handelt es sich um das tödlichste Tornadoereignis in Europa seit dem 11. Juni 2011 in Brusilov. Gegenwärtig die Intensität des Tornados aufgrund der Schadensmuster auf F3-T7 geschätzt, wobei ich aufgrund der völligen Entrindung einzelner Bäume eher zu F4-T8 tendiere. (laufend aktualisierter tschechischer Wikipedia-Eintrag).
Update, 02.07.21: Laut der tschechischen Fallstudie wird der Tornado als F4 klassifiziert.

Bei mir wurden sofort Erinnerungen an die schwere Gewitterlage am 3. August 2008 in Frankreich wach. Auch damals trat der F4-T8-Tornado erst in den späten Abendstunden auf, die Schadensspur bei Hautmont war 20km lang und teilweise 650m breit. Über 1500 Häuser wurden beschädigt, 3 Menschen verloren ihr Leben. Bereits am 24. Juni 1967 gab es in derselben Region zwei vergleichbar schwere Tornados. Seit dem 18. Jahrhundert wurden in der Nord-Pas-de-Calais-Region 34 Tornados beobachtet, davon waren fünf verheerend mit F4-5-Intensität. (Quelle)
Der letzte vergleichbar starke Tornado in Österreich trat am 10. Juli 1916 in Wiener Neustadt auf. Der F4-T8-Tornado (einzelne Bilder weisen auf F5 hin) zerstörte mehr als 100 Gebäude, über 300 Menschen wurden verletzt, 32 starben. In den österreichischen Tageszeitungen liest man – offenbar aufgrund einer APA-Meldung – die falsche Angabe, dass der Neustädter Tornado nur 300 km/h erreichte und F4-5 in Österreich noch nie beobachtet worden wäre. (siehe Abschlussbericht 2013)
In Wien gab es den letzten Tornado am 15. Juli 2017 nahe Schwechater Flughafen. Er erreichte F1-T3 und legte in 15 Minuten rund 3km Strecke zurück (Video). Stärker war der F2-T4-Tornado am 21. Juli 2016 in Karlstein, Waldviertel.
Klimawandel Schuld am schweren Tornado?
In Zeiten von allgemein zunehmenden Wetterextremen liegt der Verdacht als Laie natürlich naheliegend, ein so verheerendes Tornadoereignis der globalen Erwärmung zuzuschreiben. Dabei zeigt sich aber oft die selektive Erinnerung, denn über Tornados wird meist nur berichtet, wenn sie besiedelte Gebiete treffen und Menschenleben fordern. Die Datenbanken zeigen aber, dass Tornados regelmäßig vorkommen, in jedem Sommer, aber mit unterschiedlicher Variabilität bei der Stärke. Diesbezüglich besteht zwischen Nordamerika und Europa auch ein geringerer Unterschied, die schwachen Tornados überwiegen, die schweren Tornados sind seltener. Nur in der absoluten Zahl führt der Mittlere Westen der USA klar. Ein F4 wird bei amerikanischer Leichtbauweise eher für dem Erdboden gleichgemachten Häusern sorgen als in vielen Teilen Europas mit Beton und Ziegelsteinen. Selbst in den schwer getroffenen Ortschaften in Südmähren stehen die meisten Häuserfundamente bis zum Dachgeschoss noch. Der stabilen Bauweise ist es wahrscheinlich auch zu verdanken, dass die Opferzahl nicht noch weitaus höher ausgefallen ist.
Tatsächlich hat es Tornados schon immer in Europa gegeben. Der früheste, bekannte Tornado überhaupt wurde im Sommer 788 in Freising (heutiges Bayern) dokumentiert.
Der erste bekannte F5-Tornado, der zudem hervorragend dokumentiert wurde, ereignete sich am 29. Juni 1764 in Woldgek, Mecklenburg-Vorpommern. Weitere F4 und F5-Tornados in Europa:
- 30.07.1119 Vyšehrad, Böhmen (wahrscheinlich F5)
- 11.09.1535 Oleśnica, Polen (F4)
- 23.09.1551/56 Grand Harbour of Malta, F3 – 600 Tote
- 23.04.1800 Hainichen, Sachsen (F5)
- 01.06.1927 Neede, Niederlande (F5)
- 24.07.1930 Treviso, Italien (F5)
- 20.07.1931 Lublin, Polen (F4-5)
- 23.08.1950 Veluwe, Holland (F5)
- 16.06.1957 Robecco Pavese, Italien (F4-5)
- 20.05.1960 Rzeszów, Ukraine (F4-5)
- 24.06.1967 Palluel, Frankreich (F5)
- 10.07.1968 Pforzheim, Baden-Württemberg (F4)
- 08.05.2015 Pianiga, Dolo, Mira, Italien (F4)
Alle Fälle gibt es in der eswd.eu – der europäischen Unwetterdatenbank, die auch Starkregen, Hagel und Starkwindereignisse umfasst.
Die Auswahl zeigt, dass der letzte F5-Tornado schon über 50 Jahre her ist, der letzte F4-Tornado war vor 6 Jahren. Zur Berichterstattung muss man außerdem sagen, dass ein schwerer Tornado, der ein Waldstück umpflügt, wesentlich weniger Aufmerksamkeit erregt, als wenn in seinen Zerstörungspfad mehrere Ortschaften liegen. Nun sind Tornados extrem kleinräumige und meist auch kurzlebige Phänomene im Vergleich zu großflächigeren Starkwindereignissen oder Starkregen. Wenn ein Wintersturm einen Kirchturm einstürzen lässt, ist das schon eher außergewöhnlich, wenn man bedenkt, wie viele Jahrhunderte die Kirche schon steht. Wenn ein Tornado eine Kirche zerstört, ist es „Pech“. Der Tornado hätte auch 500m danebenziehen können. Zwischen völliger Zerstörung und Unversehrtheit liegen bei Tornados oft nur wenige zehn bis hundert Meter. Es gibt auch im Mittleren Westen der USA Ortschaften, die nie einen Tornado zu Gesicht bekamen.
Der Datensatz enthält mehrere Limitationen hinsichtlich Dunkelziffer: Je weiter in die Vergangenheit zurück, desto schwerer lässt sich herausfinden, ob ein bestimmtes Schadensbild durch einen Tornado oder eine gewöhnliche Gewitterfallböe verursacht worden ist. In der Zeit vor 1800 sind überhaupt nur schwere oder außergewöhnliche Tornadoereignisse bekannt, oft mit Todesfolge oder Schäden an kulturellen Denkmälern. Dazu kommt eine Dunkelziffer durch Tornados in unbesiedelten Regionen, die, wenn überhaupt, nur durch Schäden an Baumstand eine Intensitätseinstufung zulassen. In dem Zusammenhang muss man leider auch sagen, dass die Gefahr von schadensträchtigen Tornados in den letzten 1000 Jahren natürlich durch das Bevölkerungswachstum zugenommen hat – ähnlich wie bei Hochwasser und Starkregen.
Hinsichtlich aktueller Datenlage ist die Meinung der Experten ist eindeutig:
Unwetterspezialist, ESTOFEX-Prognostiker und Klimaforscher Georg Pistotnik, ZAMG:
„Durch wärmere Temperaturen sei mehr Energie in der Luft. Keine Aussagen könne man aber zu Tornados treffen. „Tornados sind Unfälle der Atmosphäre“, erläuterte der Klimaforscher. Die Schwankungen zu deren Auftreten seien so stark, dass man keine Voraussagen treffen könne“
Ö1-Mittagjournal, 25.06.21
Da es sich bei Tornados nicht nur um sehr kleinräumige und kurzlebige, sondern auch um eher seltene Ereignisse handle, könne aufgrund der Datenlage tatsächlich nicht von einer Zunahme in Bezug auf den Klimawandel gesprochen werden, so Kaltenberger. Auch in der „Warnsignale Klima“-Broschüre der Uni Hamburg ist zu lesen, dass eine Zunahme von Tornados infolge des Klimawandels „bis jetzt nicht nachgewiesen werden“ konnte.
https://orf.at/stories/3218747/
Einen gut ausdifferenzierten Text über Tornados und Klimawandel in den USA gibt es von Paul Markowski.
Er deckt sich mit meinen Vermutungen und Beobachtungen: Zunahme an Instabilität, aber eher Abnahme an vertikaler Windscherung, weil durch die Schwächung des horizontalen Temperaturgradienten zwischen Arktis und Äquator (Arktis erwärmt sich stärker im Zuge der Klimaerwärmung) der Jetstream an Stärke verliert. Im Text wird außerdem noch die Beobachtung genannt, dass im Frühjahr die Zahl von Tornados eher rückläufig ist, wo spekuliert wird, ob nicht die Zahl der Gewitter insgesamt zurückgeht, weil die Luftschichtung zu stabil ist für Auslösung.
Es wird spekuliert, dass die Instabilität durch die global wärmeren und feuchteren Luftmassen zunimmt (Rädler et al., 2019), das gilt besonders für großen Hagel. Grund für diese Annahme ist der Anstieg an bodennaher Bodenfeuchte, die zu mehr Instabilität und absolutem Wassergehalt führt. Gleichzeitig soll aber in mittleren Höhen vor allem in Südeuropa die relative Feuchte abnehmen, wodurch insgesamt weniger Gewitter entstehen. Die Autoren beobachten im Fall von Wetterlagen mit labilen Luftmassen aber eine Zunahme von vertikaler Windscherung in ihren Simulationen.
However, the projections show that wind shear in unstable situations does not decrease and even increases robustly across parts of central and eastern Europe. A possible explanation is that shear is intensified in major convective situations across western and central Europe as a large southerly mid-level jet develops on the western flank of hot air advected northward.
Zusammenfassend kann man sagen, dass sich aufgrund der bisherigen Datenlage keine Häufung aufgrund der globalen Erwärmung feststellen lässt. Unter der Voraussetzung, dass Gewitterlagen mit starker Höhenströmung zunehmen, wäre eine lokale Zunahme an Tornadoereignissen denkbar. Für starke Tornados muss allerdings auch die bodennahe Scherung passen.
Voraussetzungen für einen Tornado
Vorarb – das ist jetzt alles sehr kondensiert an Information, weil ich sonst nicht mehr fertig werde. Wer eine umfassende Erklärung möchte, wie Tornados entstehen, dem ist der Beitrag von Tornadopapst Chuck Doswell empfohlen, den ich schon persönlich kennenlernen und zwei Workshops über Schwergewitter miterleben durfte. Ein weiterer Beitrag stammt ebenfalls von einem absoluten Tornadoexperten, Johannes Dahl. Anschaulicher und leichter verständliche Erklärungen findet man im Buch von Markowski und Richardson (2010) sowie im Guide von ESTOFEX.
In der modernen Synoptik spricht man von „ingredients“ (Zutaten), die für ein bestimmtes Wetterphänomen vorhanden sein müssen, das geht von Gewitter über Starkregen bis zu Tornados. Hierbei muss man unterscheiden zwischen mesozyklonalen und nichtmesozyklonalen Tornados. Der rotierende Aufwindbereich eines Superzellengewitters wird Mesozyklone genannt. Er benötigt Richtungs- und Geschwindigkeitsänderung mit der Höhe. Aber: Nicht jede Superzelle erzeugt einen Tornado!
Tornados ohne Mesozyklone brauchen das Gegenteil: Möglichst wenig Geschwindigkeitsänderung mit der Höhe. Sie entstehen an einer Bodenwindkonvergenz, wo Winde unterschiedlicher Richtung zusammenströmen.

Durch den starken Auftrieb wird der vertikale Wirbel am Boden gestreckt und bildet einen meist schwachen Tornado. Über Wasseroberflächen (Wasserhosen) ist diese Tornadoart häufiger als über Land. So hat man schon Tornados über dem Bodensee, Starnberger See sowie häufig über Adria, Nord- und Ostsee beobachtet. Dafür genügen bereits schwache Regenschauer, ein Gewitter ist nicht notwendig.
Bei Superzellen unterscheidet man noch klassische, niederschlagsreiche (HP) und niederschlagsarme (LP) Superzellen.
Tornados entstehen am häufigsten bei klassischen Superzellen im Bereich des Hook Echos wenn sich der warme Rear Flank Downdraft um den rotierenden Aufwind herumwickelt.

LP-Superzellen sind viel hochbasiger als klassische oder niederschlagsreiche Superzellen. Sie erzeugen wenig Niederschlag und dafür häufiger großen bis sehr großen Hagel. Tornados sind die Ausnahme. HP-Superzellen erzeugen vor allem extrem viel Niederschlag, Orkanböen und in seltenen Fällen regenumhüllte Tornados, die schwer erkennbar sind.
Wann entsteht bei einer Superzelle ein Tornado?
Tornados brauchen grundsätzlich genügend Auftrieb in der 0-3km Schicht, hohe relative Feuchte in Bodennähe für niedrige Wolkenuntergrenzen, welche die Distanz zwischen rotierender Gewitterwolke und Boden verringern, sowie genügend bodennahe Windscherung, sowohl Richtungs- als auch Geschwindigkeitsscherung.
Verheerende Tornados zeigen oft sehr viel bodennahen Auftrieb in Kombination mit markanter Geschwindigkeitszunahme in den untersten 3km.
Kontext Klimawandel:
Die alleinige Zunahme an Gewitterlagen würde noch keine Tornadozunahme implizieren. Die häufigsten Gefahren sind Starkregen und (viel) kleiner Hagel. Mit zunehmender Instabilität würde großer Hagel häufiger auftreten. Nur straffe Höhenströmungen mit durchziehenden Trögen bringen vermehrt und teilweise großräumige Starkwindereignisse (z.b. 10.7.2002, 2.6.99) hervor. Nur bodennah stärker ausgeprägte Tiefdruckgebiete im Vorfeld der Gewitter erzeugen ideale Bedingungen für starke Tornados durch rückdrehende Bodenwinde. Hohe relative Bodenfeuchte ist dabei ebenso wichtig. Im bayrischen Alpenvorland gibt es häufig rückdrehende Ostwinde und starke Südwestwinde darüber, trotzdem sind Tornados die Ausnahme, dafür sehr großer Hagel und schwere Sturmböen häufiger. Werden die künftigen Sommer nicht nur heißer, sondern gehen vermehrt mit Nordwestlagen einher, wird die Luftmasse insgesamt trockener und die Voraussetzungen für Gewitter und Tornados werden allgemein schlechter. Nehmen Troglagen zu, verlagert sich das Tornadopotential weiter nach Osteuropa.
Nicht zu vernachlässigen ist auch das Tornadopotential bei Winterstürmen wie KYRILL (18.1.07, mehrere F3-Tornados in Deutschland), EMMA (1.3.2008) oder Sturmtief FABIENNE am 23.09.2018.
Voraussetzungen beim Tornado in Südmähren
Wetterlage:
Ich hab selten so eine aussagekräftige Analyse wie hier gesehen, die schon auf den ersten Blick das Potential für ein schweres Tornadoereignis erkennen lässt:
500 hPa Geopotential (schwarz), relative Topographie (farbig), Temperatur (grau strichliert) und Bodendruck (weiß) am Donnerstag, 24.06.21, 18 UTC

Das 500 hPa Geopotential zeigt einen breiten Höhentrog über Mitteleuropa und einen Höhenrücken über dem Balkan bis zur Westukraine. Über Norditalien, Österreich bis Tschechien sind die Isohypsen stark gedrängt => Zutat 1: Starker Südwestwind in der Höhe.
Nach Osten zu herrschen deutlich wärmere Luftmassen als im Westen, das heißt zum Einen, dass sich der Osten von Österreich und Mähren noch in potentiell energiereicher Luftmasse befinden => Zutat 2: hohe Instabilität vorhanden
Zum Anderen liegt die Drängungszone der relativen Topographie quer über Tschechien und Österreich und Mähren unmittelbar an der Vorderkante. Damit existiert dort eine Luftmassengrenze mit frontogenetischer Hebung. Gestützt wird dies noch durch kleinräumige Tröge, die in die kräftige Südwestströmung eingelagert sind => Zutat 3: Hebung vorhanden
Am eindrücklichsten ist aber das Bodentief im Wiener Becken mit Kerndruck 1010 hPa. Es handelt sich nicht nur um eines flaches Tief, sondern weist drei Isobarenringe auf, die weit in den Westen von Österreich und Norden von Österreichen hineinreichen. Aufgrund der Isobarendrängung wehte am Boden mindestens ein mäßiger nördlicher Wind. Zusammen mit der starken Höhenströmung aus Süd hat man damit => Zutat 4: markante Richtungs- und Geschwindigkeitsscherung in der 0-3km Schicht
Leider ist ausgerechnet diese Region im Dreiländereck nicht gerade mit Wetterstationen gesegnet. Wetterballonaufstiege gibt es in Wien-Hohe Warte (87km entfernt im Südwesten) und in Prostejov (69km im Norden), jedoch nur mittags (14 Uhr lct), also rund 6 Stunden vor dem Ereignis.
Ersatzweise gibt es „Proximity Soundings“, also Prognoseaufstiege der numerischen Wettermodelle, die nicht so exakt sind, aber eine Näherung bieten:

Einer der Aufstiege zeigt zum Tornado-Zeitpunkt enorme Labilitätsenergie über dem Weinviertel bis Mähren (rund 2000-2500 J/kg) und gleichzeitig hohe Windscherung in der 0-6km Schicht (50kt Südwestwind). Die Winddrehung mit der Höhe (siehe Hodograph oben rechts) ist ausgeprägt, dazu ein sehr niedriges Kondensationsniveau bei rund 950m Höhe (sehr tiefe Wolkenuntergrenze).
Die Wolkenobergrenzentemperatur um 20.15 lct kurz nach dem Tornadoereignis zeigt bei Hodonin Minima um -62°C mit mehreren „Overshooting Tops“, wo der Aufwind stark genug ist, das Equilibrium Level an der Tropopause zu durchstoßen. Das entspricht hier rund 12000m Höhe!

Es gibt von Marion et al. (2019) eine Arbeit über den Versuch, über solche Overshooting Tops das Potential für schwere Tornados abzuleiten.
Radarbild (5min-Prognose von 19.10) um 19.15 lct, Niederösterreich und Mähren.

Leider gibt es auch keine gute Radarabdeckung für diese Region, zumindest keine frei verfügbaren Einzelradarbildern. Hier vom Radar Rauchenwarth bei Schwechat. Es zeigt die Superzelle bei Hodonin. Ohne Dopplerwindradar und ohne vorherige Augenzeugenberichte ist eine rechtzeitige Tornadowarnung nahezu unmöglich.
Wenn man den Radarlopp zurückverfolgt, ist die später tornadische Superzelle bei Hainfeld in den Gutensteiner Alpen entstanden, zog weiter über Neulengbach und begann sich ab Tulln deutlich zu intensivieren und zunehmend rechts auszuscheren.
Die Luftmassengrenze war markant ausgeprägt, noch um 16 Uhr waren es +24 im Hochland und +36 bei Nitra in der Slowakei. Im Gegensatz zum Wiener Becken, wo es erst nach den Gewittern am Nachmittag bodennah anfeuchtete, lagen die Taupunkte in Südmähren schon mittags verbreitet über 20°C, stellenweise bei 23°C.
Wetterballonaufstieg von Prostejov nördlich von Hodonin, 14.00 Uhr lct.
Prostejov befindet sich bereits zu weit nördlich in der etwas trockeneren Luft mit Taupunkte um 20°C. Gerade bei der Berechnung von Labilitätsenergie gilt, dass schon wenige Zehntel Unterschied im Taupunkt große Änderungen ergeben können.

Wenn man von 22-23°C Taupunkt ausgeht, dann konnte die schwache Inversion in 900 hPa locker überwunden werden. Die 0-3km Scherung betrug bereits Mittags 35kt, mit 0-6km kommt man auf knapp 45kt. Bodennah herrschte hier Windstille, der Nordwind kam erst später und eher südlicher auf.
Zusammenfassung:
Eine kräftige Südwestströmung führte hochlabile und bodennah sehr feuchte Luftmassen in den Osten von Österreich sowie in den Südosten von Tschechien. Eine ausgeprägte Luftmassengrenze sowie kleinere Tröge in der Höhenströmung eingebettet erzeugten Hebungsantrieb. Die kräftige Tiefdruckentwicklung am Boden über dem Osten von Österreich verursachte starke bodennahe Richtungs- und Geschwindigkeitsscherung. Damit waren alle Zutaten für einen starken Tornado vorhanden – nach jetzigem Stand der schadensträchtigste Tornado seit 900 Jahren.
ESTOFEX hatte einen Tornado zumindest nicht ausgeschlossen:
Due to the high coverage of storms and strong 0-3 km wind shear, formation of foreward propagating MCSs and bow echoes is expected, with severe winds becoming the main threat. A tornado is not ruled out, with increasing potential across Slovakia due to strong low-level vertical wind shear that develops in the evening.
ESTOFEX-Prognose von Christoph Gatzen von Donnerstag, 24. Juni 2021, 02:21 MESZ
Wie groß war die Gefahr in Wien?
Im Titelbild ist eine LP-Superzelle knapp südlich von Wien gesehen. Bestand bei uns auch ein erhöhtes Tornadopotential? Der Teufel steckt im Detail!
Wetterballonaufstieg Wien-Hohe Warte um 14 lct

Taupunkte knapp unter 20°C am Boden, zwischen 880 hPa und 800 hPa eine ziemlich ausgeprägte Temperaturinversion mit schier unüberwindbarem „Deckel“, über den ein aufsteigendes Luftpaket erst einmal drüber muss. Darüber mächtig Labilitätsenergie bis rund 11500m Höhe. Oberhalb von rund 600 hPa straffe Südwestströmung mit 40-50kt, ab 300 hPa sogar 60kt. In der 0-3km Schicht schwächer als in Mähren, nur rund 20-25kt Scherung, aber auch hier bodennah rückdrehende Winde auf Ost. Ausgeprägt trocken im Bereich der Inversion sowie ab 600 hPa.
Im Unterschied zu Prostejov und auch den Vorhersageaufstiegen oben ist die feuchte Schicht in Mähren viel hochreichender (bis rund 3000m hinauf) als in Wien, wo es nur rund 1km hinauf geht. Auch die Inversion ist in Mähren tiefer und schwächer ausgeprägt als in Wien. Die bodennahe Scherung in Wien ist etwas schwächer, die Taupunkte niedriger. Sonst bestehen keine fundamental großen Unterschiede.
Erst nach Durchzug der Gewitter im Wiener Becken stiegen die Taupunkte auf teilweise extreme Werte von 22-25°C.
Abschließend noch die Entwicklung der LP-Superzelle im Wiener Becken:
15.05 Uhr MESZ: Erste Towering Cumulus (TCU) im Südwesten, am linken Bildrand bereits der ausgeprägte Ambossschirm (scharf abgegrenzt) einer kräftigen Gewitterzelle über dem Schneeberg.

15.30 Uhr MESZ: Kreisrund wie ein Ufo sieht der Ambosschirm des Gewitters zwischen Alland und Liesing aus. Der Aufwindbereich ist so schmal, dass man links und rechts dran vorbei schauen kann.
Auffallend bereits im frühen Stadium die Ausbildung von Cumulonimbus incus mammatus (untere Hälfte Bildmitte), die auf starke Absinkbewegungen hindeuten! Ein Merkmal von LP-Superzellen sind sehr starke Höhenwinde über 60kt, wie sie die Wien-Sonde auch anzeigen. Dadurch verlagert sich die Ambosswolke viel rascher als der Aufwindbereich, wo der Niederschlag entsteht. Die Masse an Niederschlag wird regelrecht mitgenommen vom Amboss und verdunstet in der trockenen Umgebungsluft. Dadurch kühlt die Luft ab und sinkt nach unten. Sinkende Luft wirkt aber dem Auftrieb entgegen und verhindert, dass sich in der Umgebung des Gewitters neue Aufwindbereiche bilden können. Die Zelle läuft schließlich in ihren eigenen Abwind hinein und killt sich selbst.

16.13 Uhr MESZ:
Die Superzelle zeigt nun das typische Erscheinungsbild einer Low-Precipitation-Supercell, mit länglicher, laminarer Wall Cloud im Aufwindbereich, Niederschlagsbereich rechts und mammatus-Formen, wie ich sie noch nie gesehen habe.

16.22 MESZ: Ab dem Zeitpunkt geht es schnell, die Wall Cloud wird größer, Hagelfallstreifen entstehen dahinter.

16.25 Uhr MESZ: Die Wall Cloud wird immer breiter, sie bleibt dabei aber länglich. Das deutet auf erzwungenen Aufstieg durch die starke Inversion zwischen 1km und 2km hin! Ohne diese Inversion würde die Wall Cloud viel turbulenter aussehen, schmaler, tiefer abgesinkt und zerrissener. Die Inversion verhindert, dass die Rotation der Gewitterwolke den Boden erreichen kann!

16.32 Uhr MESZ: Man sieht oberhalb der Wolke ein Loch, der rotierende Aufwindbereich ist nun stark geneigt.

16.35 Uhr MESZ: Bilder, die ich sonst nur aus Texas kenne ….

16.40 Uhr: Die Wall Cloud erreicht ihre maximale Ausdehnung mit einem sehr breiten Aufwindbereich. Die Rotation war zu diesem Zeitpunkt mit bloßem Auge sichtbar (ohne Zeitraffer …).

16.52 Uhr: Das Gewitter verlagert sich nun sukzessive nach Norden, die Wall Cloud wird unstrukturierter und löst sich allmählich auf. Eine knappe halbe Stunde später hatte sich die Gewitterzelle vollständig ausgelöst. Sie brachte nahe dem Flughafen leichten Regen, sonst durchgehend Winde aus Ost bis Nordost, keine Outflow-Böen. Es gab einige sehr intensive Blitzeinschläge mit ordentlichem Krawumm, wahrscheinlich positiv geladene Blitze aus dem Ambossschirm heraus.

18.05 Uhr: Eine knappe Stunde später entstand eine weitere LP-Superzelle bei Wiener Neustadt. Wie beim Vorgänger schmaler Aufwindbereich (in mittleren Höhen zu trocken, dadurch schlanker Wolkenturm), Ansätze zu einer Wall Cloud links und rasche Ausbildung von mammatus als Indikator für ein vorzeitiges Ende. Eine Stunde später war auch von dieser Zelle nichts mehr übrig. Hingegen lebte die Tornado-Zelle von Hodonin von 15.30 bis etwa 21.00 Uhr, also über fünf Stunden!

Fazit: In Wien verhinderten vor allem der starke Höhenwind auf Ambosshöhe, die stabile Inversion in mittleren Höhen (1-2km) und die zu geringe bodennahe Feuchte (nur 0-1km hoch), dass die Rotation der Mesozyklone langlebig blieb und den Boden erreichen konnte.