Archiv für den Monat Januar 2015

Jahrhundertblizzard: Der Selbstläufer eines Hypes

Tagelang, und schon im voraus, wurde heftig wegen eines möglichen Jahrhundertblizzards an der US-Ostküste getrommelt, 90 cm Schnee und Böen über 90 km/h wurden für New York City angekündigt. Während syrische Flüchtlinge im Libanon tatsächlich unter dem Kälteeinbruch leiden und vom Tod bedroht sind, fielen in New York nur 15-25 cm und die Auswirkungen hielten sich dank umfangreicher Vorsichtsmaßnahmen stark in Grenzen.

Die Analysekarte vom Dienstag, 27. Januar 2015, 13 MEZ (07 Uhr Lokalzeit), zeigt den Luftdruck am Boden sowie die Luftmassen in 1500 m Seehöhe anhand der äquivalentpotentiellen Temperatur, die auch die Feuchte beinhaltet.

Die nördliche US-Ostküste ist für heftige Regenfälle, Tropenstürme (vgl. SANDY 2012) und Blizzards wie geschaffen, aus mehreren Gründen:

1. ziehen Tiefdruckgebiete über den Atlantik nordostwärts. Über dem Festland würden sie sich aufgrund der Bodenreibung rascher abschwächen, außerdem stellt das warme Ozeanwasser tageszeitunabhängig Energie zur Verfügung, während sich der Kontinent in der Nacht rascher abkühlt.

2. befindet sich über Kanada bis Grönland im Winter ein massiver Kaltluftkörper in Polarkreisnähe. Die geringere Wärmekapazität des Festlands sorgt für beständige Kälte, und im Gegensatz Madrid in Spanien, das auf dem gleichen Breitengrad liegt, kann die Kaltluft nicht eine längere Strecke über das frostfreie Meerwasser zurücklegen, und sich entsprechend kaum erwärmen.

3. befindet sich die Frontalzone häufig genau im Grenzbereich zwischen milden Atlantik und kaltem Festland. Entsprechend ziehen die Tiefdruckgebiete (unter Verstärkung) entlang der US-Ostküste.

Die vorliegende Analysekarte zeigt, dass der Sturm etwas östlicher zog als die Wettermodelle ursprünglich zeigten. Damit befand sich der Niederschlagsschwerpunkt östlich von New York City. Die starke Isobarendrängung an der Westflanke des Tiefs (schwarzer Kasten) deutet auf stürmische Nordwinde hin, welche rasch frostige Polarluft einströmen lässt.

  • Wäre das Tief etwas westlicher gezogen, hätten sich der intensive Niederschlagsbereich und der starke Wind genau überlappt.
  • Bei einer noch westlicheren Zugbahn wäre NYC auf die Vorderseite des Tiefs gekommen, d.h. in eine südöstliche Bodenströmung mit wärmeren Luftmassen (Regen).
  • Bei einer noch östlicheren Zugbahn hätte NYC zwar stürmischen Nordwestwind und eisige Kaltluft erhalten, dafür kaum noch Schneefall.

Wenige dutzend Kilometer entscheiden also über ein völlig anderes Wetter – zwischen worst case (Jahrhundertblizzard) und starkem Regen, aber kaum Wind.

Manche Meteorologen oder Journalisten ließen sich dazu hinreißen, auf Twitter genaue Mengen vorherzusagen bzw. gar hochaufgelöste Lokalmodelle zu posten. Hochaufgelöst bedeutet aber nicht exakte Prognose! Die hohe Auflösung ist nur dann eine Stärke, wenn das Muttermodell, mit dem das Lokalmodell gefüttert wird (= Rand- und Anfangsbedingungen) das Tief korrekt erfasst. Kleinere Abweichungen, und das Lokalmodell rechnet die 50 cm Neuschnee am falschen Ort.

Quelle: NWS

Quelle: NWS

Die 24-Stunden Summenkarte in Inch (1 inch = 2,5 mm)  bis 28.01.2015, 09:06 Lokalzeit, zeigt verbreitet 20-30 cm, an einzelnen Stellen nördlich von New York City auch über 50 cm. In Boston fielen zum Beispiel 60 cm Neuschnee.

Laut Weather Channel auf Twitter

30.8″ of snow in Blue Hill, MA making it their 2nd biggest snowstorm on record & 4th biggest for Portland, ME w/ 23.8″

fielen teils sogar knapp 80 cm Neuschnee.

Für die Regionen außerhalb New York handelte es sich also tatsächlich um einen veritablen Schneesturm, allerdings konzentrierte sich der Hype natürlich vorwiegend auf die Millionenmetropole.

Das Problem für die Meteorologen ist einerseits medial bedingt, andererseits kann man sich selbst dem Hype nicht immer entziehen und entwickelt ebenfalls eine hohe Erwartungshaltung an das potentiell historische Unwetterereignis. Das lässt die Meteorologen dann mitziehen, statt zu bremsen, selbst wenn die neuesten Modelle entweder eine Abschwächung zeigen oder größere Unsicherheiten vorhanden sind.

Der Hype entwickelt sich zum Selbstläufer wie ein perpetuum mobile, und wenn sich unmittelbar vorher dann abzeichnet, dass die Modelle die östlichere Zugbahn wählen oder das Tief schwächer ausgeprägt ist als erwartet, ist es bereits zu spät.

Katastrophenankündigungen verkaufen sich nunmal besser als Relativierungen.

Als Fazit ist zu ziehen: 

Die Meteorologen können sich nur auf die Annahmen der Wettermodelle stützen. Liegen diese falsch, geht die Prognose daneben. Der ideale Weg ist daher ein Mittelweg, nicht den worst case nach außen zu tragen, sondern den wahrscheinlichsten Fall – und Wahrscheinlichkeiten kommuniziert man über Prozentangaben (das Ereignis ist zu 80 % sicher) oder über Bandbreiten (für die worst case Zugbahn werden 30 % Vorhersagesicherheit erwartet, die wahrscheinlichste Zugbahn ist aber …). Das MetOffice löst dieses Dilemma etwa bei Zugbahnen von Sturmtiefs über Großbritannien mit Hilfe von Grafiken, die die wahrscheinlichste Zugbahn und strichliert bzw. anders markiert, unwahrscheinlichere (worst-case oder no-case) Zugbahnen zeigen, und welche Auswirkungen dies für die Bevölkerung hat.

Wissenschaftsjournalisten wissen um diese Unsicherheiten und gehen nicht mit dem worst case an die Öffentlichkeit. Das klingt einfacher als es ist. Am besten verkäuflich sind – wie bereits erwähnt – dramatische Wetterereignisse, und keine Zeitung oder Medienportal möchte die Gelegenheit verpassen, auf ein solches hinzuweisen, wenn das alle tun.

Der Konsument der Berichterstattung sollte das im Hinterkopf behalten, und der Meteorologe im Dienst muss versuchen, sich dem Hype zu entziehen, und statt einem top-down-approach – nur Modelle heranziehen, die das Unwetterereignis zeigen – den bottom-up-approach hernehmen, d.h., anhand der verfügbaren Datenlage interpretieren, was am wahrscheinlichsten ist.