Hamburg: Eine typische Tornadolage?

In Bezug auf den Tornado in Hamburg am 7. Juni 2016 rief der geschätzte Spektrum-Redakteur Lars Fischer einen gut recherchierten Artikel über die Tornado-Alley in Europa in Erinnerung. Inhaltlich hervorragend passen die geschilderten Zutaten für (starke) Tornados jedoch nicht auf den gestrigen Fall.

Nachfolgend ein paar Beispiel-Wetterlagen von berüchtigten Tornadolagen in den letzten Jahren in Deutschland. Zu sehen ist die 500 hPa Geopotential + Bodendruck + Relative Topographie. Quelle für die Archivkarten ist wetter3.de, bestätigte Tornados und verdächtigte Fälle aus www.tornadoliste.de

10. Juni 2003: F3-T6-Tornado in Acht, Eifel.

acht

05. Mai 2015, F3-T6-Tornado in Bützow bei Rostock, 5 weitere bestätigt, 8 Verdachtsfälle

buetzlow

25. August 2012 – F2-T5/F3-Tornado in Ellmau, Kitzbüheler Alpen

ellmau

27. März 2006, F2-Tornado in Hamburg-Harburg (2 Tote), 7 weitere bestätigte Tornados und 6 zahlreiche Verdachtsfälle in Norddeutschland

harburg

3. August 2008, F4-T8-Tornado in Hautmont, Nordfrankreich (3 Tote)

hautmont

23. Juni 2004, F3-T7-Tornado in Micheln, Sachsen-Anhalt, 2 weitere bestätigt, 7 Verdachtsfälle

micheln

13. Mai 2015, 2 F3-Tornados, ein weiterer bestätigt, 2 Verdachtsfälle (Süddeutschland)

sueddeutschland

14. Juli 2012, 3 Tornados, davon 2 F3-T6 Tornados in Polen

polen

Video von einem der beiden F3-Tornados:

In allen Fällen waren die im Spektrum-Artikel aufgeführten Zutaten vorhanden. Entweder eine markante Luftmassengrenze und präfrontal stattfindende Gewittertätigkeit und/oder in energiereichen Luftmassen markante Windzunahme mit der Höhe und entsprechend starke Windscherungen. Wohlgemerkt habe ich hier nur eindeutige Fälle aufgezählt mit schweren Tornados und besonders starken Höhenwinden. Jedenfalls sieht man hier deutlich die straffen Höhenströmungen, meist Südwest und West, und den Durchgang ausgeprägter Kaltfronten mit Luftmassenwechseln.

Für den (mutmaßlich F1) Tornado in Hamburg am 7. Juni zeigt sich jedoch ein gänzlich anderes Bild:

hamburg

Hier liegen die Isohypsen (Linien gleicher Druckfäche in 500 hPa) sehr weit auseinander über Hamburg, ergo herrschte eine schwache Höhenströmung. Das Bodentief über Lübeck ist eingequetscht zwischen zwei Hochdruckgebieten über der Irischen See und der Ukraine. Die Zutaten für starke Windzunahme mit der Höhe waren also nicht vorhanden. Bevor ich weiter analysiere, sollte man sich unbedingt die vergangenen 7-10 Tage in Erinnerung rufe:

In Mitteleuropa fand ein regelrechter Outbreak an Tornados und Trichterwolken-Sichtungen statt, mit rund einem dutzend bestätigter Tornados und dutzenden Verdachtsfällen seit 26. Mai 2016! Ursache war eine festgefahrene Wetterlage mit fast stationärem Höhentief über Mitteleuropa, sehr feuchten Luftmassen am Boden und in mittleren Höhen, sehr warmen Luftmassen mit energiereicher Luft und überwiegend geringen Winden in allen Höhen.

Auch im Fall von Hamburg zeigen die Radiosondenaufstiege vom Boden bis zur Tropopause kaum mehr als 15 Knoten Westwind in der Höhe. Zu wenig für organisierte Gewitter mit Superzellentornados, worauf sich die beschriebene Tornado-Alley bezieht. Die Begleitumstände lassen natürlich aufhorchen, immerhin wurde während dem Tornado in Hamburg auch großer Hagel beobachtet, was typisch für Superzellentornados und eher selten bei Nichtsuperzellentornados ist.

Jedoch erzählt die Entwicklung der tornadischen Gewitterzelle anhand des frei verfügbaren Radars von Kachelmann eine andere Geschichte:

Um 17.20 MESZ befanden sich zwei starke Zellen nördlich von Hamburg, weitere Zellen im Südwesten. Gegen 17.50 MESZ entstanden im Norden Hamburgs neue Zellen, zum Zeitpunkt des Tornados (18.15 MESZ) hatte sie sich rapide verstärkt, aber bewegte sich nur langsam ostwärts. Erst um 19.45 MESZ hat sie die Landesgrenze Hamburgs nach Nordosten verlassen und sich dabei deutlich aufgelöst.

Das Bodenwindfeld um 17.00 MESZ zeigt über Norddeutschland eine stark konvergente Windströmung über Hamburg, wo West- und Ostwinde zusammenprallen, sie bleibt auch um 18.00 MESZ wenige Minuten vor der Tornadobildung erhalten. Um 19.00 hält sich die Bodenkonvergenz, um 20.00 MESZ hat sich schließlich Nordwestwind durchgesetzt.

Die für rund zwei Stunden stationäre Konvergenz der Bodenwinde ist die wahrscheinlichste Ursache für den Tornado. Das zeigt das folgende Schaubild von Wakimoto und Wilson (1989):

2_6

Quelle: http://www.estofex.org/guide/2_3_2.html

Sogenannte nichtsuperzellige bzw. nichtmesozyklonale Tornados (auch Typ-II-Tornado genannt) entstehen, wenn an einer Bodenkonvergenz lokale Wirbel um eine senkrechte Achse entstehen. Entwickeln sich dann Quellwolken, die mächtiger werden, steigen Aufwinde direkt über diesen Wirbeln auf. Der Aufwind streckt den Wirbel bis zur Wolkenuntergrenze. Infolge der Wirbelstreckung verringert sich der Durchmesser des Wirbels. Jetzt gilt aber die Massenerhaltung und folglich beschleunigt die Rotation, um die Luft nach oben zu pressen, vergleichbar mit einem Eisläufer, der bei einer Pirouette die Arme anlegt. Ein Tornado wurde geboren!

Das großräumige Windfeld zeigt, dass die Konvergenzlinie schon Stunden vorher existierte. Jedoch entwickelt nicht jeder Schauer oder Gewitter an dieser Linie einen Tornado! Diese Wirbel müssen eine gewisse Stärke erreichen. Und da kann eine Rolle gespielt haben, dass unmittelbar vor der Entstehung des kräftigen Gewitters weitere nördlich und südlich umherzogen. Die kalten Abwinde eines Gewitters strömen seitwärts aus und treffen auf die Abwinde anderer Gewitter bzw. auf die vorherrschenden Windströmungen. So können sich sehr lokal horizontale Windscherungen verstärken und die notwendigen starken Wirbel bilden.

Derartige Konstellationen gab es seit Beginn der windschwachen Wetterlage reichlich, aber in den meisten Fällen geschieht es eben am Land oder näher zur Küste hin (auch ein Land-Seewind-System produziert günstige Bedingungen für diese Konvergenzlinien), dieses Mal traf es eine Großstadt. Es hätte aber genauso ein paar hundert Kilometer weiter südlich passieren können (und weiter Verdachtsfälle wurden gemeldet).

Schlussfolgerungen:

Zusammengefasst wurde der Begriff Tornado-Alley erfunden, um häufiges Tornadoauftreten zu beschreiben, das meist an dynamische Wetterlagen gebunden ist, also in Zusammenhang mit (schnellziehenden) Kaltfronten, Sturmtiefs, markanten Luftmassenwechseln, oft im Sommer. Auch die europäische Tornado-Alley bezieht sich auf starke Windscherungen und straffe Westwinde in der Höhe. Im Hamburger Fall vom 7. Juni 2016 handelt es sich jedoch um eine windschwache Wetterlage. Zwar zog am Boden eine schwache Okklusion nach Südosten … jedoch zeigen sich in den Temperaturkarten für 850 hPa (= 1500 m) keine Andeutungen eines Luftmassenwechsels (gekommen ist deutlich trockenere Luft):

2016060718_3okk

Die sehr schmale, aber energiereiche Zunge feuchtwarmer Luft bewirkte jedoch eine markante Konvergenz der Bodenwinde über längere Zeit. Das Zusammenspiel mit Abwinden/Ausfließen kalter Luft aus anderen Gewitterzellen kann die Entstehung des kräftigen Gewitters samt großem Hagel im Nordosten Hamburgs begünstigt haben. Nachdem sich das Gewitter aber über nahezu zwei Stunden hinweg kaum verlagerte, ist eine Superzelle als Ursache eher unwahrscheinlich. Ein nichtsuperzelliger Tornado (Typ II-Tornado, engl. landspout) würde ich derzeit als am wahrscheinlichsten ansehen.

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