Unwetter am 18.08.22: Wie überraschend kam die Orkanfront?

Sichtbarer Satellitenbildkanal am 18. August 2022, 08.30 MESZ über Italien, mit einem linienförmigen Gewittercluster über dem Golf von Genua, zu dem Zeitpunkt gab es im Norden von Korsika verbreitet Spitzenböen über 200 km/h, Quelle: Kachelmannwetter

Ein Dürrejahr mit wochenlang ausbleibendem Niederschlag kann auch bedeuten: Wenn sich dann wieder eine schwere Gewitterlage abzeichnet, fehlt das Risikobewusstsein – und das ist wohl in Teilen mitverantwortlich für die dramatischen Folgen der Unwetterfront, die am 18. August 2022 über den Süden und Osten von Österreich – mit mindestens fünf Toten – zwei Kinder starben am St. Andräer See im Bezirk Wolfsberg, drei Wanderer kamen im Abstieg vom Dürrenstein/Herrenalm im Bezirk Scheibbs ums Leben. Mehrere Stationsrekorde wurden aufgestellt, etwa in Neumarkt (139 km/h), Mooslandl (124 km/h), Leoben (117 km/h), Köflach (113 km/h), Kapfenberg (112 km/h). In der Steiermark wurden reihenweise Strommasten umgeknickt, hunderte Bäume entwurzelt und Dächer abgedeckt. In weiten Teilen Kärntens und der Steiermark fiel der Strom aus, der Bahnverkehr musste eingestellt werden.

In den Nachrichtenmeldungen ist quer durch die Bank etwas zu lesen von „kam überraschend“, „war unerwartet“, „noch nie erlebt“, aber auch gleichzeitig „auf die Klimakatastrophe zurückzuführen“. Es ist ähnlich wie in der Pandemie – was wir nicht verstehen oder ignoriert haben, bricht über uns herein wie eine Naturgewalt. Dagegen können wir nichts machen, heißt es dann – die Verantwortung von sich schieben. Eigenverantwortung ist derzeit in aller Munde, doch hätte man was machen können?

Ich beginne die Nachbetrachtung dieses Mal umgekehrt, nämlich zuerst mit der Frage, was man strukturell besser machen kann, und dann mehr Infos zum Ablauf des Ereignisses.

Interessenskonflikte behindern Prävention

Vorab – die gestrige Unwetterlage fand auf den Tag genau fünf Jahre nach einer ähnlich gearteten Unwetterfront an der Alpennordseite statt. Auch damals wurde gewarnt, trotzdem starben bei einem Zeltfest am Hausruck zwei Menschen. Am 3. Oktober 2020 gab es ein starkes Südföhnereignis in den Nordalpen – der Bürgermeister von Göstling an der Ybbs missachtete die Sturmwarnungen und gab einen Erlebnisweg im alpinen Gelände frei, ein Kind wurde von einem Baum erschlagen. Immer wieder gibt es zwar Warnungen, aber Verantwortliche, die glauben, es besser wissen zu wollen – die Parallelen zur Pandemie sind unverkennbar:

Im Zusammenhang mit einem Legionellen-Ausbruch in einem Tiroler Dorf im Jahr 2001 hielten die Studienautoren Schmid et al. (2004) fest, dass auf lokaler Ebene mit einem Dorf, das stark vom Tourismus abhängig ist, Interessenskonflikte eine „unüberwindbare Hürde für die Einführung geeigneter Ausbruchskontrollen“ darstellen könnten.

Ob Zeltfest, Erlebniswelt oder Konzerte – es geht meist um wirtschaftliche Interessen, die im Zweifelsfall vor der Vernunft stehen, und nicht darum, was bei Eintritt des Schadensfalls für Konsequenzen drohen.

Sind Unwetterwarnungen Eigenverantwortung?

Wir haben einen staatlichen Wetterdienst, eine Wetterredaktion im öffentlichen Rundfunk und Landeswarnzentralen in den Bundesländern. Unwetterwarnungen können über Webseiten, Apps, Radio aber auch lokal über Sirenen erfolgen. Eine app-unabhängige Verbreitungen von Unwetterwarnungen via „Cell Broadcast“ ist notwendig, wie beispielsweise in den USA. Das Wording muss unmissverständlich klarmachen, dass es gefährlich wird, dass man zügig handelt und nicht wartet, bis dunkle Wolken bereits über einem sind. In Österreich ist die Umsetzung des EU-Katastrophenwarnsystems leider stark verzögert, es gibt nicht einmal einen Entwurf.

Blick vom Schulterkogel nach Süden ins Lavanttal Richtung St. Andrä, 18.08.22, 15.20 (links) und 15.30 (links), Quelle: Foto Webcam EU

In St. Andrä geschah das Unglück gegen 15.30 MESZ. Ein Einheimischer sagt laut oben verlinkten Bericht der „Kleinen Zeitung“.

„Es hat uns alle völlig unerwartet erwischt. Es gab keine Warnung, nichts“.

Georg Zagler, Geschäftsführer von „Wetter Zone“, der Warn-App der ZAMG, widerspricht auf Twitter, es habe eine Gewitterwarnung für St. Andrä um 14.50 Uhr gegeben. Laut Betriebsordnung der Freizeitanlage Andräer See wäre es Aufgabe der Badeaufsicht gewesen, den See zeitnah räumen zu lassen:

„Bei ungünstiger Witterung kann eine frühere Beendigung der Badeaufsicht erfolgen.“

Betriebsordnung

Mit der Gewitterwarnung hätte es 40 Minuten Vorlaufzeit gegeben, um den Badesee zu evakuieren, zumindest aber das exponierte Gelände unter den Bäumen zu verlassen. Definitiv zu spät ist es, erst mit der panikartigen Flucht zu beginnen, wenn bereits tiefschwarze Gewitterwolken sichtbar sind und der Wind aufzufrischen beginnt. Gewitterlinien haben die Eigenschaft, dass Druckwellen (kalte Luft strömt aus dem Gewitter aus und läuft kilometer voraus, damit steigt der Luftdruck stark an) vorauslaufen, und der Wind stark auffrischen kann, bevor der Regen beginnt. Die Ursache und Bedeutung von Druckwellen habe ich bereits mehrfach erläutert, etwa im Juni 2016 oder Juni 2017. Das muss ins Bewusstsein der Bevölkerung hinein, dass Gewitter mehrere Gefahren mit sich bringen – die „nass zu werden“, ist die geringste, bei Gewitterlinien ist es vor allem der Sturm, bei clusterförmigen Gewittern ist es vor allem Starkregen, bei einzelnen Schwergewitterzellen alle Gefahren zugleich mit Großhagel, Sturm und Starkregen, manchmal auch Tornados.

Allgemeines Problem mangelnden Severe Weather Literacy (analog zur Health Literacy) ist aber, dass die Bevölkerung überwarnt mit allgemein gehaltenen Wetterwarnungen „Gewitter mit Starkregen, Hagel und Sturmböen„, es wird so wenig differenziert, dass nach dem zehnten Gewitter, wo es „nur“ ein bisschen stärker geregnet hat, die Warnung irgendwann nicht mehr ernstgenommen wird.

Im Fall der toten Wanderer am Dürrenstein wirds mit zeitnahen Warnungen schwierig:

Der Abstiegsweg am Alpinweg von der Herrenalm befindet sich nordostseitig des Dürrenstein-Plateaus, an der Ostseite des Scheiblingsteins. Im Tal gibt es kein Mobilfunknetz, die Sicht Richtung Unwetteraufzug von Süden ist durch den Dürrenstein-Stock versperrt, Quelle: bergfex.at

Hilfsmittel wie Radarbilder oder Webcambilder in der Nähe schauen nützen ohne Netzempfang nichts. Die Himmelssicht war eingeschränkt im Abstieg. Problematisch war auch die starke Sichttrübung durch Saharastaub, womit mächtige Gewitterwolken in größerer Entfernung schwer oder gar nicht erkennbar sind. Ich kenn die Routenführung der Wanderer nicht, weiß daher nicht, ob sie zuvor am Dürrenstein, am Scheiblingstein oder nur auf der Herrenalm waren. Jedenfalls hat man nur am Gipfel freie Sicht nach Süden. Hier muss man die Frage also anders stellen: War eine Tagestour mit später Rückkehr bei einer potentiell schweren Gewitterlage vertretbar? Hätte man das Tourenziel der Wetterlage anpassen müssen? Oder früher aufbrechen? Es gibt Gipfelziele, wo man absolut stabiles Wetter braucht, speziell dann, wenn man in einer Region ohne Mobilfunknetz unterwegs ist.

Spätestens jetzt sollten wir uns mal die Wetterlage generell anschauen:

Großwetterlage:

Vorab kann man sagen, dass sich die generelle Unwetterlage mit Gewitterclustern von Süden schon tagelang in den Wettermodellen abgezeichnet hat. Es war klar, dass die Alpensüdseite besonders betroffen sein wird, und es war klar, dass es im Südosten und Osten am längsten trocken und sehr heiß werden würde. Ebenso war klar, dass Gewitter auch auf die Alpennordseite übergreifen würden, und zwar zwischen Vorarlberg und Oberösterreich. Der größte Unsicherheitsfaktor war in dem Bereich, wo es jetzt die Extremwindspitzen gegeben hat, zwischen Osttirol, Kärnten, Obersteiermark bis Wald- und Mostviertel.

Bevor wir in die Details einsteigen, lohnt ein Blick auf das großräumige synoptische Muster (dieser Abschnitt wird jetzt ein wenig technisch, die Zusammenfassung für Laien erfolgt weiter unten) – alle Karten aus der Wetterzentrale

500 hPa Geopotential, Temperatur und Bodendruck, GFS 00z-Lauf für 12z

Auf den ersten Blick eine markante Trogvorderseite über dem westlichen Mittelmeer bzw. Golf von Genua, ein Hitzekeil vorderseitig über der Adria bis Ostösterreich. Eingelagert ein Seitentrog über Nordostitalien bis Slowenien. Bodennah eher flache Druckverhältnisse mit einem Hitzetief von Tschechien bis Ungarn. Höhenkaltluft mit -15°C über dem verbreitet 28°C warmen Mittelmeer, also über 40K vertikale Differenz – das ist äußerst instabil und unterstreicht das hohe Potential für kräftige Konvektion.

850 hPa Geopotential und Temperatur, gleicher Termin

Um die frühe Nachmittagszeit reicht die wellende Frontalzone von Korsika und Sardinien über die Poebene bis nach Nordwestösterreich. Weiter östlich sehr heiß. Insgesamt eine Luftmassengrenze auf hohem Niveau, auch rückseitig nirgends unter 15°C in 850 hPa.

CAPE und Lifted Index, gleicher Termin

Die vorhergesagte Labilitätsenergie war im westlichen Mittelmeergebiet am Anschlag, hohe Werte aber auch über der Mitte von Österreich.

500 hPa Jetstream, gleicher Termin

Der Jetstream erreichte 50-60kt über den Gebieten, wo die Gewitterlinie durchzog, sie verlagerte sich mit dem Starkwindband in der Höhe entsprechend rasch nordostwärts. Diffluenter Auszug über Südösterreich stützte die explosiven Neubildungen über Kärnten und der Steiermark. Schwergewitter über Südösterreich damit vollkommen plausibel und advektiv auch über Niederösterreich später.

Zusammenfassung:

Die Großwetterlage lieferte alle Zutaten für eine Schwergewitterlage – ein Starkwindband in der Höhe, dadurch schnelle Verlagerung der Gewittersysteme, vorderseitig heiße und trockene Luftmassen, dadurch starke Verdunstungskälte und linienhafte Ausprägung der Gewitter, und durch das viel zu warme Mittelmeer wesentlich markantere Labilitätsenergie als bei normal temperierten Bedingungen. Die drei Zutaten für Gewitter waren gegeben: Feuchte, Labilität und Hebung. Der größte Unsicherheitsfaktor war, wo über Italien die Gewittercluster ansetzen würden, um dann mit der Südwestströmung über die Alpen zu ziehen.

Bereits am Vortag, 17. August 2022, gab es Hinweise in den Lokalmodellen, dass Korsika extreme Windböen beim Durchzug der Gewitterfront sehen könnte – siehe Thread von Pieter Groenemeijer, Meteorologe bei ESTOFEX. Er zeigte u.a. das französische AROME, das die Windspitzen korrekt vorhersagte, allerdings am falschen Ort (im Süden der Insel statt im Norden). Andere Lokalmodelle zeigten höchstens starke Winde, aber keinen schweren Sturm. Pieter argumentiert ähnlich wie ich oben: Wenn die Modelle so stark auseinandergehen, kommt man mit gemittelten Prognosen oder Ensembles oft nicht weit – wichtig ist das physikalische Verständnis dafür, was Unwetter benötigen.

„Das Einzige, was ein Vorhersager ab dem Zeitpunkt tun kann, wo die Modelle abweichen, ist zu schauen, ob zumindest großräumig die nötigen Zutaten gegeben sind.“

Die ESTOFEX-Vorhersage für den Tag erwischte die Unwetterlage über Korsika bis Norditalien perfekt, unterschätzte aber die Gewitterlinie angrenzend über Österreich.

Aber … Vorhersager Pujik erwähnte bedeutende Unsicherheitsfaktoren:

„The southward extent of the morning convection, which will very likely be plentiful near the coastlines of the NW Italy. This may impact where the track of the most intense severe weather will be in the afternoon and evening.“

„Some of the high-resolution model runs suggest intense bow-echoes capable of extremely severe wind gusts.“

„Interestingly, a large model discrepancy exists where exactly the storms form. Thus, a very wide lvl 1 is kept over the region.“

Die AROME-Version wurde also für plausibel gehalten, gleichzeitig war unklar, wie weit südlich die Gewittercluster über Italien ansetzen würden, davon abhängig war aber die Zugbahn der Gewitter nach Nordosten. Drittens wurden die großen Modellunterschiede weiter nördlich erwähnt.

Nur ein einziger Modell-Lauf lag richtig

Die Verlagerung der Gewitter von Kärnten über die Steiermark bis ins westliche Niederösterreich hatte ein einzelner Lauf des deutschen Lokalmodells ICOND2 korrekt gezeigt. Ich hab die Karten von der Wetterzentrale gesichert.

ICOND2 vom Mittwoch, 17.08.22, 21z-Lauf (abends) – Niederschlag

gleches Modell, Spitzenwinde

Das Modell rechnete nicht nur die Verlagerung korrekt – mit Ausnahme von Wien, das wurde in allen Läufen danach korrekt zurückgenommen, sondern auch die zugehörigen Spitzenböen in Orkanstärke. Eine Meisterleistung … nur… alle Folgeläufe des Lokalmodells, die alle drei Stunden erscheinen, rechneten die Gewitter deutlich weiter westlich – im Einklang mit allen Globalmodellen.

Stellvertretend für die Modellperformance hier eine Auswahl von Morgenläufen (00 UTC) vom Donnerstag, 18.08.22, für den Nachmittag – 6 Stunden Niederschlag.

oben: GFS-WRF, ICON-D2 und UKMO, unten: ICON,GFS und EZWMF – alle Karten von Kachelmannwetter, lila der Bereich mit tatsächlich gefallenen Niederschlagsmengen

Aus keinem Modell hätte man eine Gewitterlinie abgeleitet, so wie sie dann aufgetreten ist, lediglich bei ICOND2 sind längliche Niederschlagsbänder erkennbar, die mit hoher Zuggeschwindigkeit in Verbindung stehen und auf entsprechendes Windpotential hinweisen – jedoch am falschen Ort. In Summe zog die Gewitterfront östlicher als von allen Modellen erwartet.

Radarbilder Österreich von 15 Uhr, 15.30, 16 Uhr, 17 Uhr, 17.45 Uhr, 18.08.22, Quelle: Kachelmannwetter

Korrekt erfasst war nur, dass das Grazer Becken bis zum östlichen Flachland trocken bleiben.

Hinweise darauf lieferte die große Differenz zwischen Temperatur und Taupunkt, resultierend in niedrigen relativ Feuchten um 30% im östlichen Flachland:

Taupunktsdifferenz am 18.08.22, 17 Uhr MESZ, Quelle: Kachelmannwetter

Wenn man aber ein paar Stunden zurückschaut, dann waren genau in jenem Bereich, wo die Gewitterlinie später entlangzog, die Taupunktsdifferenzen im moderaten Bereich:

Taupunktsdifferenz am 18.08.22, 13 Uhr MESZ, Quelle: Kachelmannwetter

Ein Hinweis darauf, dass die Feuchte hier ausreichend sein würde, um Gewitterbildung zu fördern.

Wenn die Modelle nicht gut passen, ist Nowcasting nötig

Ab dem Zeitpunkt, wo der Istzustand von der Vorhersage abweicht, muss man flexibel bleiben, darf sich nicht krampfhaft ans Modell festklammern, sondern muss zum Nowcasting übergehen.

Zum Vergrößern Klicken, 3-stündige-Druckänderung 14-18 Uhr, Quelle: Kachelmannwetter

Ein wichtiges Inzidenz für ein markantes Windereignis lieferte die sogenannte isallobarische Druckänderung – die 3-stündige Druckänderung an den Bodenstationen. Da gab es schon um 14 Uhr einen starken Anstieg über Nordostitalien mit bis zu 7 hPa in 3 Stunden. Dieser Anstieg setzte sich unter Abschwächung über Kärnten, die Steiermark bis Niederösterreich fort. Nördlich der östlichen Kalkalpen bis Wechsel schwächte sich der Druckanstieg deutlich ab, zeitgleich mit der sich abschwächenden Gewitterfront, deren Windspitzen auch an Höhe verloren. Wetterdienste haben diese Werte alle 10 Minuten aktualisiert und können so gemeinsam mit den hochaufgelösten Radarbildern den Verlauf der Gewitterfront gut folgen.

Nachdem die Gewitterlinie großräumig im diffluenten Jetauszug lag, unter großräumiger Hebung, bei nicht zu geringem Feuchteangebot am Boden, gab es keinen Grund anzunehmen, weshalb sie sich am Weg von Italien nach Österreich erheblich abschwächen sollte.

Wolkenobergrenzentemperaturen in °C, 08.45, 12.45, 14.45 (oben) und 15.30, 17.00, 18.15 (unten), Quelle: kachelmannwetter.com

Je niedriger die Wolkenobergrenzentemperatur, desto hochreichender in diesem Fall die Gewitterwolke. Sobald es ins Gelb-rötliche geht, muss man mit kräftigen Gewittern rechnen. Die Abfolge der Bilder zeigt ein erstes Maximum bei Korsika in der Früh, gefolgt von Abschwächung bis zur Adriaküste. Bis 14.45 hat sich der Cluster weiter abgeschwächt, ist dann aber Minuten vor dem Unglück in St. Ändra erneut intensiver geworden, hat mit den Unwettern im Mostviertel ein sekundäres Maximum erreicht und sich am Weg ins Wald- und Weinviertel wieder abgeschwächt.

Bleibt also noch zu klären, warum es zur explosiven Neubildung in Unterkärnten gekommen ist: Die Wetterdaten zeigen um 15 Uhr vom Lavanttal bis zum Waldviertel verbreitet 30-34°C und 6-7 hPa Druckgefälle auf wenigen zehn Kilometern. Mit anderen Worten, die Druckwelle würde in die präfrontal heiße und energiereiche Luft reinrauschen und orographisch gehoben im Übergang vom Klagenfurter Becken zu den alpinen Erhebungen.

Zusammenfassung

Großräumig konnten mit Ausnahme des östlichen und südöstlichen Flachlands nirgends in Österreich (schwere) Gewitter ausgeschlossen werden. Die Zutaten für Gewitter waren mit Feuchte, Instabilität und Hebung vorhanden. Die kräftige Höhenströmung lieferte die vierte Zutat für organisierte Gewitter, der große Temperaturgegensatz und das Druckgefälle erhöhten das Potential für linienförmige Gewitter. Die Attributationsforschung wird klären, ob das vier bis sechs Grad zu warme Mittelmeer ein derartig intensives Windereignis im Golf von Genua wahrscheinlicher gemacht hat.

Tägliche Abweichungen bei den Meeresoberflächentemperaturen im Mittelmeer

Unabhängig vom Einfluss der globalen Erhitzung und des Ausnahmesommers in Südeuropa gilt es das Risikobewusstsein in der Bevölkerung zu verbessern und insbesondere auch den Informationsfluss zwischen Wetterdienst, Landesbehörden bis lokale Ebene (Sirenen), um zeitnah Wetteränderungen kommunizieren zu können. Die Wetterlage entwickelte sich anders als geplant – das kann man so festhalten, ab dem Vormittag war die Wetterentwicklung im „Nowcastmodus“, Modelle waren nicht mehr brauchbar. Dennoch gab es offenbar rechtzeitig Warnungen der Zentralanstalt für St. Andrä, die aber nicht an die Badegäste kommuniziert wurden.

Für tagesfüllende alpine Touren wie am Dürrenstein kann man nur den allgemeinen Tipp geben, eher defensive Touren zu planen:

  • früh starten
  • Hütten am Weg, um Zufluchtsorte zu haben
  • Regionen mit schlechtem Handyempfang nur bei absolut stabiler Witterung wählen
  • Regionen mit seltenem/fehlender Himmelssicht in die Richtung, aus der ein Wetter kommen könnte, nur bei absolut stabiler Witterung

Denn geht es einmal schneller als erwartet oder überhaupt unvorhergesehen, dann hat man am Berg keine Chance mehr. Ist man noch in der Nähe der Hütte im Abstieg, kann man versuchen, wieder aufzusteigen, und die Hütte zu erreichen. Der Abstiegsweg lag auch noch in einem Südwest-Nordost ausgerichteten Tal mit entsprechenden Düseneffekten.

Aussagen wie „ein solches Elementarereignis habe man in der Gegend noch nie erlebt“ sind wenig hilfreich. Ich bin Ende 30 Jahre alt und habe noch nie Hagel über 6 cm erlebt oder Orkanböen über 120 km/h im Gewitter, geschweige denn einen Tornado, der an mir oder über mich zog. Trotzdem weiß ich was, zu tun ist, wenn es eine Gewitterwarnung bin und ich unter Bäumen am Wasser liege: Ich suche möglichst schnell das Weite, um mich vor herumfliegenden Ästen (best case) bis umstürzenden Bäumen oder Blitzschlag ins Wasser zu schützen. Das gilt ortsunabhängig ebenso wie unabhängig von meinen Erfahrungen.

Danksagung:

An Jörg Kachelmann für das umfangreiche Archivangebot von Kachelmannwetter ohne dass Fallstudien wie diese nicht möglich wären. Ich habe alle verwendeten Karten mit Originalquelle verlinkt.

An Clemens Teutsch und Lars Lowinski für fruchtbaren Austausch auf Twitter, sowie für allen anderen Input für diese Fallstudie.

*

Nachtrag 1, 20.00 MESZ –

Auszug aus ORF-Steiermark-Meldung

Ab Donnerstagvormittag (ab 9.48 Uhr) lag von der ZAMG eine gelbe Gewitterwarnung für ganz Osttirol und ganz Kärnten, den Großteil von Salzburg, die Westhälfte der Steiermark, Oberösterreich südlich der Donau und einen Teil des niederösterreichischen Mostviertels vor. Weiters gab es ab diesem Zeitpunkt eine orange Gewitterwarnung für Teile von Osttirol und Oberkärnten. Innerhalb von Minuten ist das Sturmtief verheerender als erwartet über die Steiermark gezogen. Anders als beim Sturmtief Paula im Jahr 2008 konnte man sich diesmal nicht vorbereiten.

Harald Eitner, Leiter der Katastrophenschutzabteilung des Landes, schildert: „Wir haben erst sehr knapp vor dem Eintreffen des Sturms eine Warnung von der ZAMG erhalten. Ich habe mit Experten dort gesprochen und die sagen, es war ein völlig anderes Windereignis als etwa bei Paula. Damals gab es große Druckunterschiede, die man zwei Tage vorher genau berechnen konnte. Dieses Mal ist es so gewesen, dass eine Gewitterfront die warme Luft sehr rasch vor sich hergeschoben hat – das ist das, was wir als Sturm empfunden haben – und das war scheinbar wirklich schwer zu prognostizieren.“

Die große Schwierigkeit sei, dass man den Wind nicht über Satteliten messen könne, weil man ihn – anders als Wolken – nicht sehen kann. In dem Moment, in dem man ihn messen kann – am Boden – ist er bereits da.“

Die Orkanböen bei Sturmtief Paula waren strenggenommen nicht durch große Druckunterschiede, sondern durch sehr trockene Luft auf der Alpensüdseite zustandegekommen, in die der Niederschlag fiel und verdunstete (siehe meine Fallstudie dazu). Es war nicht so schwierig, den Wind zu produzieren – man sah ab Korsika, wie die Sturmfront (Squall line) durchmarschiert ist. Es war nur bis zum Morgen nicht absehbar, dass die Front über die Alpensüdseite so weit nach Osten ausgreifen würde.

Dass man Wind nicht vom Satelliten sieht, stimmt so nicht. Über dem Meer kann man ihn messen – über dem Kontinent sieht man manchmal (ebenso am Meer), wie eine mit gestern vergleichbare Druckwelle tiefe Wolken vor sich herschiebt („Outflow Boundary“), die Vorderkante markiert den stürmisch auffrischenden Wind. Gestern war das wegen der vorlaufenden dichten hohen Bewölkung des Gewitterambossschirms plus Saharastaubtrübung nicht erkennbar. Wie aus meiner Analyse ersichtlich, konnte man aber anhand der Drucktendenzen, dem starken horizontalen Druckgefälle und den bereits aufgetretenen Spitzenböen über Italien abschätzen, dass da eine schwere Sturmfront im Anmarsch war.

Nachtrag 2, 20.15 MESZSchuld wird bei den Bäumen gesucht, nicht bei mangelndem Risikobewusstsein

Die Staatsanwaltschaft Klagenfurt hat unterdessen bekanntgegeben, dass in St. Andrä im Lavanttal, wo zwei Mädchen von umstürzenden Bäumen erschlagen worden sind, ein Sachverständiger die Arbeit aufgenommen hat. Die Bäume werden nun untersucht.  In Niederösterreich wurde nach dem Tod dreier Wanderinnen festgestellt, dass die Bäume, die auch dort ein Unwetter umgeworfen hatte, zumindest augenscheinlich keine Vorerkrankungen Vorschäden hatten.

Kein Kommentar.

Nachtrag 3, 20.20 MESZ

Das Ereignis wird inzwischen als Derecho klassifiziert, es dauerte insgesamt 13 Stunden, Spitzenböe 224 km/h auf Korsika, rund 1000km Streckenlänge von Korsika bis zur tschechischen Grenze , mindestens 12 Tote, mehr als 10cm großer Hagel.

Fotoquelle und mehr Infos (auf französisch): @WxNB

Nachtrag 4, 21.15 MESZ –

Gute Nachlese in der aktuellen Ausgabe der „Kleinen Zeitung“ (19.08.22, leider Paywall) von Georg Pistotnik, ZAMG. Er erklärt ebenfalls, dass einzelne Modelle die östliche Variante gezeigt haben, es aber zu unwahrscheinlich erschien, dass diese eintraf.

Nachtrag 5, 20.08.22

„Sie haben angehalten, um sich ihre Jacken anzuziehen, als Wind und Regen einsetzten und die Bäume umstürzten“

Quelle: NÖ-ORF, 18.08.22

Auch hier muss mehr Bewusstseinsbildung für Gefahren bei Gewittern einsetzen. Wenn ich vor Gewittern warne, antworten mir viele Berggeher „ein bisschen Regen macht doch nichts.“, aber ist die Blitzschlaggefahr egal? Der Sturm? Der Starkregen, der den Abstiegsweg vermuren kann? Die Brücke über den Bach wegreißen kann?

Nachtrag 6, 21.08.22

Inzwischen gibt es auch fundiertere Einschätzungen aus der Fachwelt, hier von Koryphäen für Gewitter aus den USA in der Washington Post – übrigens ein Lehrbuchfall für hervorragenden Wissenschaftsjournalismus, aus dem man für die Zukunft mehr lernen kann außer „alle waren überrascht.“ und „wir müssen den Klimawandel stoppen“.

Weitere Infos von Experte Mateusz Taszarek auf Twitter:

  • Derechos waren in den letzten 8 Jahren im aufgetretenen Gebiet zwischen Korsika und Alpennordseite sehr selten
  • Die Bedingungen für das Derecho waren außergewöhnlich und sehr selten – sechs Stunden vorher zeigte der Wetterballonaufstieg extrem hohe Instabilitätswerte (über 3500 J/kg) und hohe Scherungswerte in der relevanten Schicht zwischen Boden und 3000m Höhe – sehr günstige Bedingungen für Derechos
  • das 3-4 Grad zu warme Mittelmeer liefert höhere Bodenfeuchte und damit höhere Labilität als normal
  • Aktuelle Klimaforschung zeigt, dass ein wärmeres Klima mit mehr Unwettergefahren in Südeuropa einhergeht, vor allem wegen höherer Bodenfeuchte – das Derecho vom 18.08. könnte also ein erster Beleg dieser Entwicklung sein.

Nachtrag 7, 22.08.22, für die Profimeteorologen relevant:

Wasserdampfbild um 18.45 MESZ – gut zu erkennen die Wolkenkante vorderseite der Dry Intrusion, das Derecho verlagerte sich synoptisch geschützt weiter.
  • Die beiden Cluster, die in der Früh und gegen Mittag über Osttirol/Oberkärnten entstanden und sich dann auflösten, befanden sich in der präfrontalen Luftmasse, das Derecho war an die Haupttrogachse geknüpft – das liefert ein wichtiges Indiz für die Beständigkeit der Linie (synoptisch gestützt).
  • Die frontogenetische Querzirkulation am Derecho liefert mehr Hebung als ein punktuell starkes Gewitter am Südrand eines Clusters.
  • Südföhneffekte waren eher am Alpenhauptkamm zu erwarten, nicht in Kärnten/zentrale Steiermark (Villacher Alpe 37 km/h um 13 Uhr, Rudolfshütte 96 km/h)
  • bei den zuvor durchziehenden Clustern war das alpensüdseitige Druckgefälle nicht so ausgeprägt, sich mit der Linie von Italien kommend aber deutlich verschärfend, damit war zumindest eine markante Druckwelle zu erwarten, unabhängig der Gewitter

Nachtrag, 25.08.22:

Vom Tomas Pucik, ESSL ist eine Nachbetrachtung erschienen.

Interessantes Detail – die Schwächephasen jeweils im Lee von Korsika, dem Apennin und Julische Alpen.

Ein Gedanke zu „Unwetter am 18.08.22: Wie überraschend kam die Orkanfront?

  1. Claudia Hinz

    Ich sehe auch hier in Deutschland die Überwarnung als Hauptproblem. Vor jedem Gewitter wird gleich gewarnt, egal, ob es absolut popelig ist oder sehr schwer wird. Zudem machen mehrere Vorwarnungen, Aufhebungen, Neuwarnungen und erneut Aufhebungen die Sache oft unübersichtlich. Meiner Meinung nach gehören Warnungen unbedingt wieder in die Hand von Meteorologen und textlich (oder per Ampelsystem?) kennzeichnet, was zu erwarten ist. Autowarn ist mit all seinen unnützen Warnungschaos zwischendurch in meinen Augen nicht zielführend, denn nach der 49. Warnung ohne wirkliche Gefahr nimmt die 50. vor diesem einen schweren Gewitter keiner mehr ernst und eigentlich kann man es auch niemanden verübeln.

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